Wie funktioniert binaurales Hören?
Binaurales oder stereofones Hören ist die Wahrnehmung akustischer Signale mit beiden Ohren. Nur diese Art des Hörens ermöglicht eine präzise Lokalisation des Schallwellenursprungs. Deshalb bezeichnet man sie auch als Richtungshören oder räumliches Hören. Die Zusammenarbeit zwischen Ohren, Gehirn und dem visuellen Apparat ermöglicht binaurales Hören. Dadurch wissen Sie, ob das Geräusch von oben, unten, hinten oder vorn kommt. Sie können sich im Raum orientieren und potenziellen Gefahren aus dem Weg gehen. Hörschäden erschweren das Richtungshören.
Trifft ein Ton auf das linke Ohr, wird er von diesem in Echtzeit, vom rechten Ohr aber etwas später, leiser und in anderer Frequenz wahrgenommen. Die entstehende Laufzeitdifferenz wird im Stammhirn vom Nucleus olivaris superior registriert. Dieses Gehirnareal zählt zur Hörbahn und arbeitet so präzise, dass es sogar Laufzeitunterschiede von 0,00001 Sekunden wahrnimmt. Diese 10 Mikrosekunden entsprechen einer Ortungsgenauigkeit von einem Grad. Die Fähigkeit des Richtungshörens ist angeboren, muss aber in der frühen Kindheit durch Lernprozesse verbessert werden. Entwicklungspsychologen gehen davon aus, dass ein genaues räumliches Hören erst ab dem achten Lebensjahr möglich ist.
Der größte Teil der von einer Schallquelle ausgesandten Wellen gelangt in den Gehörgang. Dort treffen sie auf das Trommelfell. Sie durchdringen dieses, passieren die knöchernen Strukturen Hammer, Amboss und Steigbügel und gelangen in die Schnecke. Ihre Bogengänge sind mit unzähligen Sinneshärchen bedeckt und mit Flüssigkeit gefüllt. Die Schallwellen versetzen die Flüssigkeit und damit auch die winzigen Sinneszellen in Bewegung. Die dickeren Sinneshärchen reagieren auf niederfrequente Wellen, die feineren auf solche mit höherer Frequenz. Dabei erzeugen sie elektrische Signale, die über den Hörnerv an den auditorischen Kortex im Gehirn weitergeleitet werden. Dort werden sie in akustische Informationen umgewandelt.
Neben den Laufzeit- und Lautstärkedifferenzen kommt es zwischen beiden Ohren auch zu Frequenzunterschieden. Nimmt das eine Ohr den Ton mit 420 Hz wahr und das andere mit 430 Hz, errechnet das Gehirn daraus den Mittelwert 425 Hz. Diese Frequenz nehmen wir dann wahr. Die Differenz zwischen den beiden Frequenzhöhen (10 Hz) bezeichnet man als binauralen Beat. Aus welcher Richtung der gehörte Ton kommt, bestimmt das Außenohr in Zusammenarbeit mit dem Gehirn. Ein Ton, der von vorne kommt, klingt anders, als ein Ton, der von hinten kommt.
Moderne Hörgeräte bieten exaktes räumliches Hören
Nur das binaurale Hören liefert dem Gehirn Informationen über die Entfernung der Schallquelle und die Richtung, aus der der Schall kommt. Daher ist es aus medizinischer Sicht nicht zu verantworten, dem Patienten nur eine einseitige Hörhilfe zu verordnen. Dieses Vorgehen basiert auf Fehlinformationen, die man mitunter noch heute in Lehrbüchern findet. Sie besagen, dass die Sprachentwicklung einseitig hörgeschädigter Kinder normal verläuft. Obwohl das nicht stimmt, testet man in einigen Ländern auch heute noch Neugeborene beim Hörscreening nur auf einem Ohr.
Diese Geringschätzung des stereofonen Hörens zeigt sich hierzulande auch darin, dass eine einseitige Taubheit nur als 15-prozentige Behinderung gilt. Und eine Schwerhörigkeit mittleren Grades auf einem Ohr lediglich als 10-prozentige Einschränkung. Auch die deutschen Hilfsmittelrichtlinien ignorieren die Notwendigkeit des beidseitigen Hörens. Sie besagen, dass eine beidseitige Schwerhörigkeit mit zwei Hörgeräten korrigiert werden KANN, aber NICHT MUSS.
Synchronisierte Hörgeräte ermöglichen optimales binaurales Hören. Die im oder am rechten und linken Ohr angebrachten Hörhilfen analysieren die ankommenden Geräusche und leiten die aufeinander abgestimmten akustischen Signale anschließend leiser oder lauter ins Innenohr. Die neuartigen Hörsysteme filtern wie die Hörbahn normalhörender Menschen Störgeräusche aus einer lauten Umgebung heraus. Dadurch können Sie sich auf das konzentrieren, was Sie hören möchten (Ihren Gesprächspartner oder Ihr Lieblingslied). Diese Hörgeräte verfügen über Funktionen wie Störschallunterdrückung, Klangdesign und Spracherkennung. Und über verschiedene Programme für unterschiedliche Hörsituationen.
Im Unterschied zu digitalen Hörgeräten machen sie exaktes Richtungshören möglich. Das liegt daran, dass sie die ankommenden Schallwellen nicht für jedes Ohr separat verstärken. Sie tauschen die erzeugten Daten über Funknetz aus und berechnen sie neu. So sind die Hörhilfen stets der jeweiligen akustischen Situation angepasst. Indem sie die Informationsverarbeitung des menschlichen Gehirns imitieren, halten sie die zwischen den beiden Ohren entstehenden zeitlichen Verzögerungen und Lautstärkeunterschiede aufrecht. Und berechnen aus diesen das passende Hörprogramm. So können Sie sich dann akustisch und räumlich bestens orientieren.
Binaurale Beats und ihre Wirkungsweise
Stereokopfhörer können das stereofone Hören simulieren. Auf dieser Erkenntnis basiert die Gehirnstimulation durch spezielle binaurale Beats. Sie werden in Entspannungs- und Meditationsmusik eingebettet und für die unterschiedlichsten Zwecke genutzt. Binaurale Beats sind pulsierende Sinustöne, die auch auf normalem Weg im Gehirn entstehen. Dafür müssen die Ohren lediglich Töne unterschiedlicher Frequenzen wahrnehmen. Obwohl binaurale Beats bereits 1839 von dem deutschen Physiker Heinrich Wilhelm Dove entdeckt wurden, erforschte man sie erst nach 1973 genauer. Der US-amerikanische Biophysiker Gerald Oster fand heraus, dass beide Ausgangsfrequenzen niedriger als 1500 Hz sein müssen und nicht mehr als 30 Hz voneinander abweichen dürfen. Und dass sie sogar dann verarbeitet werden, wenn sie unter der Wahrnehmbarkeitsschwelle liegen. Den Forschungen Osters ist es zu verdanken, dass binaurale Beats heute sogar zur Besserung bestimmter Beschwerden und Erkrankungen eingesetzt werden. Ob diese tatsächlich eintritt, kann derzeit mangels umfangreicher medizinischer Forschungen noch nicht geklärt werden.
Gehirnwellenstimulation mit stereofonen Beats
Neurophysiologen sind seit Längerem damit beschäftigt, den Einfluss dieser besonderen Töne auf die im menschlichen Gehirn ablaufenden Prozesse zu untersuchen. Fakt ist, dass sie in Soundtracks eingebettet und über Stereokopfhörer zugeführt einen anderen Bewusstseinszustand hervorrufen können (neuronales Entrainment). Diese verschiedenen Zustände lassen sich mithilfe des Elektroencephalogramms (EEG) grafisch darstellen. Das neuronale Entrainment basiert auf der Fähigkeit des Gehirns, seine eigenen Gehirnwellen mit den über Stereokopfhörer zugeführten Beats zu synchronisieren. Um nach einem anstrengenden Arbeitstag zu entspannen, hören Sie zuerst Musik mit einer Beatfrequenz von 20 Hz, die langsam auf 8 Hz gesenkt wird. Damit bringen Sie Ihr Gehirn vom Betazustand in den Alphazustand. Das Gehirn sendet nämlich tagsüber Betawellen von 13 bis 30 Hz aus, damit Sie konzentriert arbeiten können (Aktivitätszustand). Um in den Entspannungszustand zu gelangen, benötigen Sie Alphawellen mit einer Frequenzbreite zwischen 8 und 13 Hz.
Die moderne Klangtherapie nutzt die in Musikstücke und Naturgeräusche eingearbeiteten Binauraltöne, um bestimmte Beschwerden wie Kopfschmerzen zu lindern und Stress zu reduzieren. Entscheiden Sie sich für eine solche Therapie, können Sie in Ihrem Gehirn je nach gewünschter Wirkung Alpha-, Beta-, Delta-, Gamma- und Thetawellen erzeugen. Sie sitzen zu Hause in einem bequemen Sessel und hören täglich über Stereokopfhörer Entspannungsmusik, die manchmal durch gesprochene positive Botschaften (Autosuggestionen) unterbrochen wird.
Eine 2017 publizierte psychologische Studie der Forscher Garcia-Argibay, Santed und Reales ergab, dass die Testpersonen, bei denen Betawellen erzeugt wurden, sich an zuvor gesprochene Wörter besser erinnern konnten als die Teilnehmer, die Thetawellen erhielten. Die Synchronisierung des Gehirns mit Betawellen scheint offenbar die Leistung des Langzeitgedächtnisses zu verbessern. Eine von denselben Forschern durchgeführte Meta-Analyse aus dem Jahr 2018 zeigte, dass binaurale Beats bestimmter Frequenzen Ängste reduzieren und Schmerzen lindern können. Doch auch auf diesem Gebiet sind noch weitere Untersuchungen erforderlich.