Das absolute Gehör – was ist das?

Besondere Fähigkeiten faszinieren uns: anmutig tanzende Balletttänzer oder atemberaubend akrobatische Trapezkünstler, Kinder, die sieben Sprachen sprechen oder Hochbegabte, die in kürzester Zeit Telefonbücher auswendig lernen. Doch während manche dieser Fähigkeiten bis zu einem gewissen Grad erlernbar sind, sind andere Fähigkeit genetisch veranlagt und somit angeboren.

Asiatischer Junge spielt auf dem Klavier

Wie verhält es sich mit dem absoluten Gehör? Handelt es sich um eine angeborene oder angelernte Fähigkeit? Ist das absolute Gehör gar eine „Superfähigkeit“? Welche Vorteile haben „Absoluthörende“? Wird man mit einem absoluten Gehör zum Musikgenie?

Was ist das absolute Gehör?

Viele musikalische Menschen sind in der Lage, einen bestimmten Ton mit Namen zu nennen, wenn ein Bezugston genannt wird. Spielt man beispielsweise auf dem Klavier das A der C-Dur Tonleiter, so können Sie jeden weiteren beliebigen Ton, der ihnen vorgespielt wird, erkennen. Hier hilft der Bezugston, den richtigen Ton zu bestimmen.

Absoluthörende gehen noch einen Schritt weiter. Sie können den Ton genau benennen, ohne vorher einen Bezugston gehört zu haben.

Wieviele Menschen besitzen das absolute Gehör?

Diese Fähigkeit ist nicht sehr häufig anzutreffen. Man schätzt, dass es in Deutschland weniger als 10.000 Menschen gibt, die diese Fähigkeit besitzen (in der Schweiz und Österreich jeweils weniger als 900).

Allerdings stellt man fest, dass es Kulturen in Asien und Afrika gibt, in denen bis zu 50 Prozent der dort Lebenden ein absolutes Gehör besitzen. Heißt das, dass das absolute Hören eine genetisch bedingte Ursache hat?

Wie bekommt man das absolute Gehör?

Wissenschaftlicher sind sich bei dieser Frage uneins. Es gibt Faktoren, die sowohl dafür, als auch dagegen sprechen, dass das absolute Gehör eine genetisch bedingte Ursache hat. Doch einige Fakten tragen dazu bei, Licht in die Sache zu bringen:

1.) Tonale Sprachen fördern das absolute Gehör.

Ein asiatischer Junge spricht auf Chinesisch
Unter Sprechern von Tonsprachen kommt ein absolutes Gehör häufiger vor als bei Sprechern nicht tonaler Sprachen. © stock.adobe.com / #65105469 / Creativa Images

In vielen asiatischen und afrikanischen Ländern werden Tonsprachen gesprochen. Berühmte Vertreter sind: Chinesisch, Vietnamesisch, Thailändisch oder auch Xhosa und Yoruba in Südafrika. Je nach lokalem Dialekt besitzen diese Sprachen zwischen vier und zwölf verschiedene Töne. Je nach Ton kann die gleiche Silbe unterschiedliche Bedeutungen besitzen. Das Wort ma im Mandarin (Hochchinesisch) kann somit je nach Tonlage Leinenstoff, Mutter, Pferd oder Schimpfen bedeuten. (Ein tolles und goldiges Video dazu finden Sie hier.) Da die Hörfähigkeit bei Ungeborenen schon im vierten Monat der Schwangerschaft einsetzt, kommt das Kind von kleinauf vermehrt mit musikalischen Tönen in Berührung und lernt, diese zu differenzieren.

2.) Musik in sehr frühen Jahren fördert das absolute Gehör.

Ähnliches beobachtet man bei Kindern, deren Eltern musizieren oder gar professionelle Musiker sind.

Untersuchungen im Gehirn von Absoluthörenden zeigen, dass die entsprechenden Teile des Hörzentrums deutlich größer sind, als bei Menschen ohne absolutes Gehör.

So könnte man zu dem Schluss kommen, dass es weniger genetische Faktoren sind, als vielmehr eine sehr frühe Aneignung einer speziellen Fähigkeit. Doch zeigen Untersuchungen im Gehirn bei Absoluthörenden, dass die Teile des Hörzentrums deutlich größer sind, als bei Menschen ohne absolutes Gehör. Die Wahrscheinlichkeit, dass das absolute Gehör auch bei den eigenen Geschwistern vorhanden ist, ist 15 mal höher als bei Normalhörern.

Erst vor wenigen Jahren fand Dr. Elizabeth Teusch vom Oakland Research Institute heraus, dass es einen Zusammenhang zwischen dem absoluten Gehör und dem Chromosom 7/8 gibt.

Um der ganzen Sache auf den Grund zu gehen, führte die Musikpsychologin Diana Deutsch an der University of Southern California eine groß angelegte Studie mit Probanden aus den unterschiedlichsten Ländern durch. Darin wies sie nach, dass bis zu 52% derer, die Tonsprachen sprechen, zwar absolut hören, aber auch nur, wenn sie ihre Heimatsprachen muttersprachlich sprechen.

Da viele Studenten mit einem Tonsprachenhintergrund bereits in zweiter oder dritter Generation in den USA leben, schnitten diese ähnlich schlecht ab wie ihre Mitstudierenden, die keine Tonsprache gelernt hatten.

So lässt sich die Frage – genetisch erworben oder angelernt – nicht abschließend zuverlässig klären. Als aktueller Stand der Wissenschaft lässt sich möglicherweise dieser gemeinsame Nenner fassen: Ein genetischer Faktor begünstigt das Erwerben des absoluten Gehörs. Dennoch muss es vom Säuglingsalter oder gar bereits als Embryo trainiert werden.

3.) Ab dem siebten Lebensjahr lässt sich das absolute Gehör nicht mehr entwickeln.

Fest steht, dass Personen ab dem siebten Lebensjahr keine Absoluthörenden mehr werden können. Die Entwicklung sowohl der Hörfähigkeit als auch der Verarbeitungsfähigkeit im Hörzentrum des Gehirns ist zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen. Daher werden kommerzielle Trainingsprogramme von Wissenschaftlern immer wieder kritisiert.

4.) Absolutes Gehör ist nicht gleich absolutes Gehör.

Der Grad an absolutem Gehör ist relativ. Während manche Absoluthörenden nur bestimmte Töne, wie z.B. das A an einem Instrument erkennen, gibt es wiederum Personen, die einzelne Töne aus einem ganzen Symphonieorchester heraushören können. So unterscheiden Wissenschaftler sogar bis zu elf verschiedene Arten von Absoluthörenden.

Vor- und Nachteile von Absoluthörenden

Handelt es sich nun um eine Superfähigkeit? Welche Vorteile hat das absolute Hören?

Gitarrist spielt mit anderen Musikern in einer Band.
Für das Musizieren ist ein absolutes Gehör oft vorteilhaft, doch oft fehlt es Absoluthörenden an Flexibilität. © stock.adobe.com / #65105469 / Creativa Images

Für die meisten Musiker ist es ein großer Segen, Töne sofort präzise bestimmen zu können. Erfahrene Pianisten können eine gehörte Melodie sofort nachspielen, Sänger treffen immer den richtigen Ton. Komponisten wiederum können bereits im Kopf ganze Stücke „runterschreiben“.

Dem berühmten Wolfgang Amadeus Mozart sagt man nach, dass er im Jugendalter während eines Gottesdienstes in Rom die A-cappella-Vertonung Miserere von Gregorio Allegri einmal gehört und später aus seinem Gedächtnis korrekt zu Blatt gebracht haben soll. Das Stimmen von Musikinstrumenten geht einem Absoluthörenden selbstverständlich leicht von der Hand und ist gar ohne Stimmgerät zu bewältigen.

Sollten Sie nun traurig sein, weil Sie zu der Mehrheit gehören (der Autor dieses Textes übrigens auch), die nicht absolut hören kann? Einige Nachteile des absoluten Hörens mögen uns zum Schluss bringen, dass auch das normale Hören ganz in Ordnung ist. Nicht wenige Absoluthörende haben im Alltag Schwierigkeiten mit lautem, „disharmonischen“ Lärm wie z. B. Straßenverkehr, Autohupen oder Sirenen.

Auch wenn das absolute Gehör Musikern von großem Nutzen ist, so kann es gerade ihnen passieren, dass es an der notwendigen Flexibilität mangelt, in einem Chor oder Orchester die Verschiebung eines Halbtons hinzunehmen. Im schlimmsten Fall kommen Absoluthörende hier nicht mehr mit und müssen im Chor oder Orchester aussetzen.

Ferner meiden einige wenige Absoluthörende transponierende Musikinstrumente wie Klarinette, Trompeten oder Saxophon, da sie einen anderen Grundton besitzen und somit für ungewollte Verwirrung sorgen.

Das Absoluthören im Alter

Leider lässt das absolute Gehör mit dem Alter nach. Man beobachtet, dass die Wahrnehmung sich um einen Halbton nach oben verschiebt. Genaue wissenschaftliche Erklärungen dazu gibt es noch nicht.

Fazit

Wie bei jeder besonderen Begabung kann auch das absolute Gehör Segen und Fluch zugleich sein. Für Musiker ist diese Fähigkeit insgesamt gesehen sicherlich sehr nützlich. Doch zeigt sich, dass man auch ohne absolutes Gehör musikalisch erfolgreich sein kann. Die berühmten Komponisten Richard Wagner oder Pjotr Iljitsch Tschaikowski sind bekannte Beispiele hierfür. Da das absolute Gehör nicht nur „absolute Vorteile“ bietet, gilt sicherlich, dass auch wir als Normalhörer sehr glücklich mit unserem faszinierenden Hörorgan sein dürfen. Mehr über die Funktion des Hörens finden Sie hier.